400 Jahre Groningen und Oldenburg
„Dieser bösartige und geschmacklose Verleumder bringt Schande über sich selbst, nicht über mich, denn er stellt seine eigene Torheit und Bosheit aus, auch wenn diese völlig machtlos ist. Sein Gedicht ist giftig, aber geschmacklos, töricht, kindisch und eines Reims in der Schule noch nicht würdig.“
Die Beziehungen zwischen Groningen und Oldenburg waren nicht immer so herzlich, wie sie jetzt sind. Gegenwärtig feiern wir 40 Jahre Zusammenarbeit zwischen unseren Universitäten, aber der erste Rektor der Groninger Akademie hatte schon vor der Gründung der Universität in Groningen ernste Probleme mit Oldenburg. Wo lag das Problem?
Es begann mit einem Buch (Ill. 1). Der evangelische Theologe und Historiker Hermann Hamelmann (1526–1595) schrieb eine Chronik von Oldenburg, in der er versuchte, die Geschichte der Grafschaft und des gräflichen Hauses möglichst weit in die Vergangenheit zurückzuverfolgen. So lautete der Auftrag, den ihm Graf Johann VII. von Oldenburg und Delmenhorst (1540–1603) als Hofhistoriker erteilt hatte. Im Jahr 1593 vollendete er sein Werk, aber dieses wurde nicht sofort veröffentlicht. Der Graf war mit dem Ergebnis nämlich aus dynastisch-politischen Gründen unzufrieden. Aufgrund der historischen Rekonstruktion Hamelmanns könnte der Bruder des Grafen, Anton II. von Delmenhorst, Delmenhorst als formell abgetrennten Teil der bisher vereinigten Grafschaft beanspruchen. Johann ließ deshalb Hamelmanns Text an seine eigenen Wünsche anpassen. Erst in dieser adaptierten Fassung erschien die Chronik im Jahr 1599, vier Jahre nach dem Tod des Autors.
Es war weder das erste noch das letzte Mal, dass Wissenschaft und Politik auf Rammkurs lagen—etwas, das auf kurze Sicht gewöhnlich auf Kosten von Wissenschaft und Wahrheit geht, auf lange Sicht aber selten. (Hamelmanns Originalfassung der Chronik wurde im Jahr 1940 doch noch herausgegeben.) Außerdem, was ist Wahrheit? Ist Wahrheit nur eine Form von alternative facts, wie ein bekannter Politiker in unserer Zeit gerne behauptet? Diese Frage spielt auch bei dem Streit zwischen Groningen und Oldenburg, um den es hier geht, eine wichtige Rolle.
In seinem Oldenburgisch Chronicon behauptete Hamelmann unter anderem, dass das Grafengeschlecht mit Friso verwandt sei, dem mythischen Vorfahren der Friesen (sozusagen der friesische Romulus) und dass die Oldenburger Grafen in Ostfriesland alte Rechte besäßen, weil sie von Widukind abstammen, dem sächsischen Helden, der im achten Jahrhundert der große Gegner Karls des Großen gewesen war. Auf dieser Grundlage erhob der Graf von Oldenburg Ansprüche auf Teile Ostfrieslands. (Ill. 2)
Ubbo Emmius war Friese. Ein Ostfriese, um genau zu sein—er wurde in Greetsiel an der Küste geboren, wo Ems und Wattenmeer aufeinander treffen. Seit 1594 war er Rektor der Lateinschule in der Stadt Groningen. Außerdem war er Historiker mit Leib und Seele. Diese Mischung hatte ihn dazu gebracht, eine Geschichte der Friesen zu schreiben—etwas, das er unter dem Titel Rerum Frisicarum historia veröffentlichen würde. Den ersten Teil aus zehn Kapiteln veröffentlichte er im Jahr 1596. Zwei Jahre später erschien der zweite Teil, und im Februar 1599 hatte er soeben das Exemplar für sein drittes Jahrzehnt an den Verlag geliefert, als er auf Hamelmanns Oldenburger Chronik aufmerksam wurde. Natürlich wollte er wissen, was in ihr über die Friesen stand. Sie finden schon früh in der Chronik Erwähnung, als es um die früheste Geschichte des Hauses Oldenburg geht. Was er las, konnte ihn nicht begeistern. Vielmehr ärgerte er sich darüber. (Ill. 3)
Er beschloss, seiner eigenen Ausgabe zur friesischen Geschichte sofort eine Warnung vor dem vermeintlichen Unsinn hinzuzufügen. Dazu fühlte er sich verpflichtet. Hatte er nicht im vergangenen Jahr den zweiten Teil seines Buches dem Grafen Willem Lodewijk van Nassau-Dillenburg (1560–1620), Stadthalter von Friesland, gewidmet? Hatte er darin nicht den Wert historischer Wahrheit und Zuverlässigkeit betont? „Es war von Anfang an meine Absicht, in dieser Untersuchung so wahrheitsgetreu und mit so viel Sicherheit wie möglich über alte und dunkle Themen zu schreiben und die Geschichte von Fabeln zu befreien ... Ich halte es für die Pflicht eines jeden, der erklärt, eine Schilderung von Ereignissen zu schreiben, dass er nicht absichtlich von der Wahrheit abweicht, sei es aus Begünstigung, Hass, Hoffnung oder Furcht, und mit größtmöglicher Sorgfalt nichts zu wünschen übrig lässt und keine Mühen scheut, um so wahr wie möglich und so sicher wie möglich das ans Licht zu bringen, was er ans Licht bringen kann. Es ist meine feste Absicht, meinen eingeschlagenen Weg fortzusetzen, ungeachtet der positiven oder negativen Auswirkungen, die ich durch Menschen erfahren werde. Meine Belohnung ist an sich schon reich genug, nämlich das Offenbaren der Wahrheit und die Sympathie derer, die die Wahrheit schätzen.“ (*3r–*6r)
Diese Worte machen deutlich, dass Emmius an die Existenz der Wahrheit als eine objektive und rekonstruierbare Tatsache glaubte—etwas, dem moderne Historiker nicht folgen. So wird verständlich, dass er sich entschloss, seine Leser vor Hamelmanns Chronik zu warnen. Zunächst betont er die Dringlichkeit seines Handelns, denn er weist den Leser ausdrücklich darauf hin, dass er diese Worte schreibt, nachdem er die Kopie dieses Bandes (drei) bereits an die Druckerei geschickt hat. Dann erst bekommt er nach eigener Aussage zwei Bücher von zwei Historikern in die Hand, in denen historisch falsche Aussagen über die Friesen gemacht werden. Für ihn ist eine gute Tat, den Leser davor zu warnen. Eines der beiden Bücher ist Hamelmanns Chronik. Ubbo schreibt (**r–**3r):
„Der Autor, der erklärt, über Oldenburg in deutscher Sprache zu schreiben, ist noch viel törichter und schlimmer [als der erste Autor, vor dem Emmius warnt]. Er verkauft uns einen Haufen Fabeln als Geschichte! Es handelt sich um Hermann Hamelmann, der erst kürzlich verstorben ist. Mit seinem Namen ist bereits alles über ihn gesagt. Schließlich ist aus seinem Leben und früheren Büchern bekannt, dass er sogar wertlos über seine eigenen Dinge schrieb, d. h. dass er die berühmtesten deutschen Grafenfamilien durcheinander gebracht und besudelt hat. Es kommt nämlich immer wieder vor, dass derjenige, der willentlich und wissentlich Luft als Wahrheit verkauft, auch andere Ergebnisse (selbst diejenigen, die stimmen) verdächtig und verächtlich macht. Aber welchen Menschen mit gesundem Menschenverstand und einigen Kenntnissen über unsere friesischen Vorfahren kann dieser eloquente Schwätzer mit dem überzeugen, was er in den ersten beiden Teilen seines Buches gedruckt hat? Den Rest habe ich nämlich noch nicht lesen können ...“ Dann zitiert Ubbo ausführlich Hamelmanns Behauptungen über die Vorfahren der Oldenburger im Zusammenhang mit ihrer Macht über die Friesen. „Als ich dies las, konnte ich mir das Lachen nicht verkneifen, das gebe ich ehrlich zu.“ Dann erklärt er, was seiner Meinung nach tatsächlich wahr ist und was bei Hamelmann nicht stimmt. Er schließt ab mit: „All dies ist größtenteils unwahr und oft in heiße Luft gewickelt oder sogar absurd und geschmacklos von Schmarotzern aus den Fingern gesogen, um bei Hofe in die Gunst zu kommen. Ich habe diese Dinge hier angesprochen, um Ihnen, verehrter Leser, zu raten, darüber nachzudenken, welches Vertrauen Sie diesem Schreiber für seine weitere Ge-schichte schulden, die er ohne glaubwürdige Zeugen vorbringt.“ (**3r) (Ill. 4)
In diesem Zusammenhang ergibt sich die bemerkenswerte Tatsache, dass Gerhard Gisecken (über wen später mehr) in seiner Verteidigung Hamelmanns behauptet, sein Buch sei erst nach dem 2. März 1599 erschienen, Emmius aber seine Warnung an den Leser auf den 2. März datiert. Emmius schreibt aber auch, dass er Hamelmanns Buch noch nicht vollständig lesen konnte, sondern lediglich den Anfang. Genau hier wird die Verbindung zwischen Oldenburg und Friesland besprochen. Darüber hinaus wurden zu dieser Zeit (und dies blieb bis ins 19. Jahrhundert so) Bücher in Lagen gedruckt und verkauft, wobei der Drucker und Verleger höchstens ein schwaches, provisorisches Band um die Gesamtheit der gesammelten Lagen binden ließ. Vom Käufer wurde erwartet, dass er seinen Kauf (in Form eines Stapels loser Lagen) selbst ordentlich binden ließ. Emmius wird also einige oder mehrere Lagen in die Hände bekommen haben, bevor der Drucker bzw. Verleger das fertige Produkt auf den Markt gebracht hat.
Die Kritik von Emmius blieb sicher nicht ohne Folgen. Im November 1599 nahm Graf Johann von Oldenburg persönlich die Feder zur Hand, um sich per Brief bei Graf Willem Lodewijk zu beschweren. Wegen Verleumdung und Beleidigung verlangte er Wiedergutmachung von Ubbo, den er als „giftigen Calumniatorn und Lesterer“ bezeichnete und als unbekannten Schullehrer abstempelte. Emmius hatte die Oldenburger Chronik als „mehr nichts dan Fabulwerck, Narrentheding, falsches erlogen und von den Schmeichlern dem Hove dardurch zu liebkosen erdichtet ding“ bezeichnet. Diese Verleumdung sei unprovoziert „und darumb thuet uns auch nicht unbillich wehe, das wir sambtlich von diesem Ubben oder Buben so unverschuldeter sachen traducirt und in den buchladen umbgetragen werden.“ Der Stadthalter müsse Emmius zur Rechenschaft ziehen, eine Unrechtserklärung verlangen und ihm ein Publikationsverbot auferlegen! Kurz gesagt, reagierte der Graf wie viele Autokraten früher und seitdem.
Der Verlauf der Affäre lässt sich anhand von Briefen, die Emmius an Bekannte schrieb und von denen die Universität Groningen oft im Besitz der Originale ist, genau verfolgen. Im Dezember 1599 verteidigt er sich mit einem Brief an Willem Lodewijk. Das Original befindet sich heute im Niedersächsischen Landesarchiv in Oldenburg, weil der Stadthalter diesen Brief als „Beweis“ an Graf Johann schickte. Am 2. Januar 1600 schreibt Emmius an Otto Friedrich von Wicht in Emden: „Vor einigen Wochen hat mich der Graf von Oldenburg in einem Brief an unseren Stadthalter wegen meiner Äußerung in meiner Geschichte über die Eitelkeit seines Mannes Hamelmann, der unserem Vaterland Unrecht tun wollte, heftig bedroht. Er drohte mit einer sehr schweren Anklage wegen widerrechtlicher Beleidigung und verlangte, dass ich zum Schweigen gebracht werde, solange er keine Genugtuung von mir erhalten habe. Gleichzeitig ließ er erkennen, dass er kaum daran zweifelte, dass ich meine Worte auf Drängen derer, die heute in unserer Heimat die erste Geige spielen, und vor allem auf Wunsch des Herrschers selbst geschrieben hatte ... Ich habe dem Oldenburger sowohl zurückhaltend als auch freimütig geantwortet. Das Ergebnis vertraue ich Gott an.”
Ubbo hatte dem Stadthalter geantwortet, er wolle mit seinen harten Worten an Hamelmann niemanden beleidigen, sondern der Wahrheit dienen und sie verteidigen. Wenn es jemand nicht genau mit ihr nimmt, ist das Grund genug für Kritik, denn die Wahrheit ist „dat levent und ware wesent der Historien.“ Ein Historiker muss ohne Ansehen der Person forschen und berichten können. Ohne die Freiheit zu schreiben und zu kritisieren, wird die historische Ehrlichkeit geblendet. In seinen Augen war es für das Grafenhaus eher nützlich, dass ein kompetenter Historiker zwischen Wahrheit und Unwahrheit bezüglich des Vermächtnisses Hamelmanns (und dies in einem schlechten Stil) unterscheiden konnte, der nämlich „die Historische Waerheit ... einen swaren slach an den backen gegehven (hefft).“ Dieser Verteidigung von Emmius hatte Willem Lodewijk einen Brief beigefügt, in dem er den Mann Ubbo und seine aufrichtigen Absichten verteidigte. Auch nach Ansicht des Stadthalters brauchten Historiker die Freiheit zu schreiben.
Zweifellos war es für Ubbos Fall nicht hilfreich, dass er eine scharfe Feder und eine schonungslose Direktheit besaß. Er will, wie er selbst sagt, recto pede pergere (geradeaus gehen). Sein Leben ist folglich von leidenschaftlichen Befürwortern und Gegnern geprägt. Übrigens müssen wir seine Worte auch in die damals in vollem Gange befindliche Debatte über die Frage einordnen, welche Maßstäbe ein Historiker anlegen sollte, um die Glaubwürdigkeit einer Quelle festzustellen. Für den Humanisten Ubbo Emmius stand das Wort der klassischen Autoren außer Zweifel. Aus diesem Grund widmet er in seiner Rerum Frisicarum historia den Friesen im Altertum kein Wort, denn diese Geschichte wurde von klassischen Autoren geschrieben. Er zitiert daher keine lokalen Quellen über diese früheste Periode, anders als z. B. der friesische Landeshistoriker Suffridus Petrus. In Ubbos Augen fiel dieser offensichtlich durch, weil er die Fragen nicht beantworten kann, die an jede Quelle gestellt werden müssen: Wann, wo und von wem wurde diese Geschichte geschrieben? Anton Rinzema (1994) nennt dies „einen zu absoluten Wahrheitsbegriff“. Für Ubbo gibt es nur eine Wahrheit, nicht nur in der Theologie, sondern auch in der Geschichtsschreibung. Er kämpft gegen den bewussten Subjektivismus, aber Rinzema stellt beispielsweise fest, dass Ubbo in seiner Geschichte der Friesen die Stadt Groningen viel milder zu beurteilen begann, nachdem er sich im Jahr 1594 dort niedergelassen hatte. Ihm war anscheinend nichts Menschliches fremd. Dennoch kann man laut Klaas van Berkel (2014) sagen, dass es eine friesische Geschichte vor Emmius und eine nach Emmius gibt, denn er war der erste, der die Methoden der modernen Geschichtswissenschaft auf dieses Thema angewandt hat.
Graf Johann war mit den Reaktionen der friesischen Seite nicht zufrieden. Er entschied sich für eine Gegenoffensive in den Medien und ließ den Oldenburger Rechtswissenschaftler Gerhard Gisecken eine Verteidigung Hamelmanns und seiner Chronik veröffentlichen, um das Ansehen und die Ansprüche des Grafenhauses zu sichern. Dieser Gisecken war Hamelmanns Schwiegersohn. In kürzester Zeit schrieb er ein mehr als hundert Seiten langes Plädoyer, mit dem er Hamelmann verteidigt, indem er Ubbos Kritik (wie sie im Brief an den Leser in der Ausgabe des dritten Jahrzehnts veröffentlicht wurde) Wort für Wort analysiert und widerlegt. Es erschien noch im Frühjahr 1600—im handlichen „Taschenformat“ und in Latein, das damals noch die internationale Sprache der Gelehrten und auch die Fachsprache des Historikers Emmius war, der auch das Deutsch der Hamelmann-Chronik als negativen Aspekt angeführt hatte.
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Emmius hatte sich schnell ein Exemplar des Buches besorgt. Am 12. Juni 1600 schreibt er an Sibrandus Lubbertus, Theologieprofessor in Franeker: (Ill. 6) „Hamelmanns Schwiegersohn, ein gewisser Gisecken, der schreibt, dass er ein Oldenburger Jurist ist, und Hamelmanns Sohn Johann schreiben im Auftrag ihres Grafen (sagen sie) ein giftiges Buch gegen mich, in dem sie nichts als Galle ausspeien und mich unverhüllt mit Dolchen oder ähnlichen Mitteln bedrohen, um mein Leben zu beenden. Diese törichten Menschen, die sich selbst mehr schaden als mir, verachte ich, und ich denke im Stillen an Rache. Ich meine, dass Sie das Buch gesehen haben, denn ich weiß, dass ein Exemplar bei Ihnen ist.“
Ein oder zwei Monate später schreibt er an denselben Sibrandus: „Ich schicke Ihnen ... die endlose Antwort des Oldenburgers, in der Sie einen messerscharfen Absatz gegen mich finden. Die wichtigsten Dinge habe ich am Rand mit Holzkohle gekennzeichnet. Bewahren Sie es auf, bis sich ein geeigneter Bote findet, durch den Sie es zurückschicken können. Dem habe ich eine Mischung aus Verleumdungen und Vorwürfen von Gisecken gegen mich hinzugefügt, so dass Sie sich diese ansehen können, wenn Ihnen danach ist oder Sie Zeit haben. Ich weiß, dass Herr Staatssekretär Eco Isbrandi [Sekretär der Staaten von Friesland] ein Exemplar davon hat, das Sie gebrauchen können. Aber ich würde es vorziehen, wenn Sie mein eigenes Exemplar wegen meiner Notizen am Rand als Gegenmittel gegen die Verleumdungen hier einsehen könnten. Ich frage Sie um Rat: Soll ich dem Verleumder antworten oder ihn missachten? Ich neige zu Letzterem, aber die Standpunkte meiner Freunde wechseln.“
Dieses eigene Exemplar von Emmius ist erhalten geblieben. Im Jahre 1832 wird es im Nachlass des Archivars der Provinz Groningen aufgeführt. Wahrscheinlich hat die UB Groningen es damals gekauft, denn es ist heute in unserem Besitz. Wir können also Ubbos Bemerkungen lesen und beurteilen. Hier sind einige Beispiele:
(Ill. 7) S. 1r: „Kurz bevor er mit der Verleumdung beginnt, prangert er Verleumdung an und geht auf törichte Art dagegen an. Ja, kurz bevor er sich in Verleumdungen entlädt und seinem Verleumdungswunsch freien Lauf lässt, täuscht er Zurückhaltung vor.“ Dies schreibt Ubbo als Vorbemerkung.
(Ill. 8) S. 2r: „Was er selbst am besten macht, prangert er an und kritisiert er: was er bei anderen als Fehler verurteilt, findet er bei sich selbst eine Qualität.“ Das schreibt Ubbo an der Stelle, an der sich Gisecken fragt, was zügellose Verleumdung bringt abgesehen von Bitterkeit und Streit, Gewinn für die Verleger auf Kosten vieler anderer. Er will nicht behaupten, dass jedes geschriebene Wort über jeglicher Kritik steht, denn kein guter Autor hat Kritik je verabscheut und sich nicht verbessern lassen, solange die Kritik aufrichtig ist.
(Ill. 9) S. 5r: „Das ist nicht wahr.“ Dies schreibt Ubbo an der Stelle, an der Gisecken behauptet, dass „Ubbius Emmo, der nun Ubbo Emmius heißt“, zuerst unerbittlich mit dem Historiker Pontus Heuterus von Delft verfährt und dann Hamelmann und dessen Chronik anführt, sie tritt und schlägt und gegen sie kämpft, als sei er übergeschnappt.
S. 5r: „Lasst andere über Unschuld und Frömmigkeit urteilen.“ Dies schreibt Ubbo zu Giseckens Behauptung, Ubbo sei so unmenschlich gewesen, dass er einen frommen und unschuldigen Mann, der bereits seit vier Jahren tot ist, in Verruf gebracht habe, indem er ihn einen unsinnigen Schwätzer und seine Chronik einen Haufen Lügen und Erfindungen, eine Non-Historie, Luft und Leere nannte.
(Ill. 10) S. 6r: „Wer sind dann diese Leute, die das gesagt haben? Du erzählst offensichtlich Träume oder deine eigenen Fantasien.“ Ubbo schreibt dies zu der Stelle, an der Gisecken sagt, dass Menschen, denen von Emmius Verhalten und wahnsinniger Kritik berichtet wurde, kaum glauben konnten, dass es wahr sei, auch in Anbetracht seiner gesellschaftlichen Stellung als Erzieher junger Menschen. Sie sagten: Warum ist dieser Emmius so dreist, dass er, wie ein moderner Archilochus, auf die Arbeit anderer Leute einschlägt, wo anständige Gelehrte nichts zu kritisieren haben?“
(Ill. 11) S. 7r: „Das sind keine Unklarheiten, das sind offensichtliche Lügen.“ Dies schreibt Ubbo, als Gisecken behauptet, dass viele Ubbos Kritik an Hamelmann hätten rechtfertigen können, wenn er eine Reihe von Unklarheiten in dessen Buch unerwähnt gelassen hätte, um zu verhindern, dass man (zu Recht) den Verdacht hegt, er wolle getrieben von Ressentiments nur verleumden.
(Ill. 12) S. 7v: „Das Vorwort existiert noch: Lasst andere urteilen.“ + „Eine ausführliche Widerlegung ist in Buch 3 des 1. Jahrzehnts eingefügt. Du lügst also.“ Diese Bemerkungen stehen am Rand, als Gisecken Suffridus Petrus im Vorwort zu seinem ersten Jahrzehnt als Opfer von Ubbos unnötig grausamer und unbegründeter Kritik darstellt.
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(Ill. 13) S. 34v–35r: Auf diese Seiten hat Ubbo zahleiche Marginalien notiert, und er hat hier sogar ein Einlegeblatt einbinden lassen. So schreibt er an den Seitenrand: „Reusner und Henning schätze ich wegen ihrer Sorgfalt und ihres Enthusiasmus sehr, aber ich gebe keineswegs zu, dass sie nirgendwo einen Fehler gemacht haben. Im Gegenteil, ich bestätige mit Nachdruck, dass sie hier und da Fehler gemacht haben. Ein Beweis dafür ist zum Beispiel die einzige Familie ostfriesischer Grafen, die bei Henning völlig falsch zusammengestellt wurde.“ Diesem fügt Ubbo dann auf dem Einlegeblatt hinzu: „Wenn wir Reusner und Henning fragen würden, woher sie die überlieferten Erkenntnisse über die Grafen von Oldenburg haben, würden sie antworten: natürlich von demselben Hamelmann und seinen Schriften oder aus denselben Oldenburger Annalen, denen Hamelmann folgt, d. h. diese haben wir aus den Aufzeichnungen entnommen und abgeschrieben, die Sciffhouwer, Sedikius und Michaelius dem Papier anvertrauten. Stützen sich auf dieselben Herren, sehr hübsch!“ Damit reagiert er auf Giseckens Bemerkung: „... von Henning S. 2 und 263 und von Reusner S. 261 (wenn sie in Ihren Augen nicht auch Plappermäuler sind) können Sie lernen ...“ Es handelt sich um Elias Reusner und Hieronymus Henninges, die beide adelige Genealogien veröffentlicht hatten.
(Ill. 14) S. 49v: „Du erfindest deine eigenen Standpunkte, um ihnen widersprechen zu können.“ Dies schreibt Ubbo, als Gisecken eine Stelle aus Ubbos Hamelmann-Kritik zitiert und erörtert, nämlich, als es um Graf Huno von Oldenburg und seinen Sohn Friedrich im Zusammenhang mit deren Ansprüchen auf Friesland geht. Gisecken wendet sich direkt an Ubbo mit den Worten: „Auf jeden Fall werden Sie nicht leugnen können, dass Friedrich gelebt hat, es sei denn, Sie wollen sich selbst widersprechen (erstes Jahrzehnt, S. 253).“ Im Wesentlichen bildet diese Anmerkung den Kern des ganzen Streits, da für Huno und Friedrich als Grafen von Oldenburg bis heute keine historischen Quellen bekannt sind.
(Ill. 15) Abschließend finden wir auf S. 64r Ubbos letzte handschriftliche Anmerkung. In der gedruckten Ausgabe beginnt hier (nach Giseckens Verteidigung) ein neuer Abschnitt mit Gedichten gegen Ubbo, die von Johann Hamelmann, dem Sohn Hermanns, verfasst wurden. Offenbar fand Ubbo es ausreichend, diesen Teil mit einer handschriftlichen Bemerkung abzufertigen. Es sind die Worte, die wir eingangs zitiert haben.
Aus Emmius‘ Korrespondenz geht hervor, dass ihn die Affäre noch einiger Zeit beschäftigte. So schrieb er zum Beispiel am 12. November 1600 einen Brief an Everard van Reyd (1550–1602), der als Anwalt und Berater von Willem Lodewijk am Stadthalterhof in Leeuwarden tätig war. Dieser Brief zeigt, dass Emmius zu dieser Zeit aktiv Quellenforschung betrieb, um Giseccken umfassend antworten zu können. Er schreibt: (Ill. 16) „Ich bin mit der Oldenburger Arbeit beschäftigt. Es gibt ein oder zwei Stellen, zu denen ich das genealogische Werk von Reusner konsultieren möchte, insbesondere im Hinblick auf den Stammbaum der Oldenburger Familie. Euer Gnaden hat dieses Werk, aber ich kann hier nirgendwo ein Exemplar finden. Daher bitte ich Eurer Gnaden freundlich und dringend, falls Ihr Euer Exemplar mitgebracht habt, jemanden die Anfänge der Oldenburger Familie von Widukind bis etwa zum Jahr 1300 abschreiben zu lassen und mir so bald wie möglich zukommen zu lassen.“
Everard van Reyd hat offenbar Emmius sofort geholfen, denn nur drei Wochen später (am 3. Dezember) schreibt Emmius bereits einen Dankesbrief—in dem auch nochmals sein Umgang mit historischen Quellen zur Sprache kommt: (Ill.17) „Zusammen mit Ihrem Brief erhielt ich den Teil der Oldenburger Genealogie, den Sie mir geschickt haben ... Darüber hinaus wünsche ich nichts, was damit zusammenhängt, es sei denn, dass der Autor zufällig im Vorwort des Werkes oder in den zu dieser Familie hinzugefügten Bemerkungen erwähnt, aus welcher Quelle er diese Angaben über Oldenburg erhalten hat. Denn obwohl ich daran und an anderen Stellen keine Zweifel und anderswo reichlich Beweise habe, wünschte ich, die Worte des Autors könnten mir das bestätigen.“
Einige Jahre später (Ende 1604) fasste er die ganze Angelegenheit noch einmal in einem Brief an seinen Freund Johan Witten, Bürgermeister von Kampen, zusammen: (Ill. 18) „Hierdurch habe ich einen großen Sturm aus Oldenburg gegen mich verursacht. Ich glaube, Sie haben von unserem Tammo [Coenders, Bürgermeister von Groningen] davon gehört. Zweimal nämlich schrieb der Graf selbst an unseren Stadthalter Graf William; mir drohte er mit den schrecklichsten und schlimmsten Dingen. Er beschuldigte mich der Majestätsbeleidigung gegen die Könige von Dänemark und Norwegen und die höchsten Prinzen von Holstein usw. und kündigte an, dass er diese Anklage verfolgen werde, auch sollte diese ihn mehrere tausend Reichstaler kosten. Er forderte, dass mir bis zum Ende des Prozesses das Schreiben verboten werde. Ich antwortete ihm, mit der Erlaubnis unseres Stadthalters, bescheiden, aber wahrheitsgemäß. Noch erregter, als er merkte, dass er in diesem Fall keine seinem Verlangen entsprechenden Hoffnungen hegen durfte, hetzte er den Schwiegersohn Hamelmanns auf, der seinen Ärger in jeder erdenklichen Weise an mir ausließ, indem er ein beleidigendes Büchlein herausbrachte, das aus verleumderischen Anschuldigungen gegen mich bestand. Das Büchlein haben Sie, glaube ich, schon gesehen. Nach diesen Blättern drohte er damit, ganze Bäume gegen mich zu fällen. Davor habe ich nicht einmal eine Spur von Angst.“
Ubbo Emmius blieb also standhaft und weitere negative Auswirkungen von der Oldenburger Seite blieben aus. Als Emmius im Jahr 1616 die vollständige Fassung seiner Rerum Frisicarum historia bei Elzevier in Leiden veröffentlichen ließ, fügte er einen neuen Brief an den Leser bei, in dem er nicht mehr viele Worte über den Fall Hamelmann verlor. Er beginnt mit der Mitteilung, dass der Drucker ihn um eine überarbeitete Ausgabe gebeten habe, in der Emmius begangene Fehler korrigieren könne. Er beschloss, dem zuzustimmen, auch weil Freunde und Gelehrte ihn auf Fehler in der alten Ausgabe hingewiesen hatten. Ich schäme mich übrigens nicht für diese inhaltlichen Fehler, schreibt er, denn was ist schwieriger, als fehlerfrei über alte Geschichte zu schreiben? Insgesamt habe er am Inhalt ziemlich viel herumgetüftelt, schreibt er, und erörtert dann eine Reihe von Beispielen. Auch der Fall Hamelmann wird wieder aufgegriffen, aber nur kurz und in einer Weise, die deutlich macht, dass Emmius seinen Stand-punkt niemals geändert hat und dazu auch nie gezwungen wurde. Zunächst rechnet er mit Hamelmann ab: (Ill. 19)
„Ich betrachte Hamelmanns Geschichten über die alte Autorität der Oldenburger über die Friesen als ungesagt. Schließlich sind sie Luft, die von Schmeichlern ohne Quelle aus dem Daumen gesogen wurden. Auch habe ich darüber nichts mehr gesagt, um keine Zeit zu verlieren und den Leser nicht zu Tode zu langweilen und mich selbst wegen Torheit anzuklagen. Fabeln verschwinden von selbst und sterben, weil sie keine Wurzeln haben.“
Dann betreten Gisecken und Hamelmann junior das Schafott: (Ill. 20) „Wenn Leute kommen und erneut versuchen, mich zu beißen oder mich mit Aufhebens zu erschrecken, ist es meine feste Absicht, sie so weit wie möglich zu ignorieren. Ich werde dasselbe tun, was ich vor langer Zeit tat, als ein schamloser Oldenburger (mir ist nicht danach, seinen Namen zu nennen)—ein dummer kleiner Mann, der auf Ruhm aus war und plante, seinen berühmten und gnädigen Grafen gegen mich aufzuhetzen—ein sehr verleumderisches Buch gegen mich herausgab und sich damit in skandalöser Weise bloßstellte; ein Buch voller Anschuldigungen, mangelhaft in Bezug auf Tatsachen, zusammengeschrieben durch die Arbeit eines anderen—ich wiederhole, durch die Arbeit eines anderen (denn was kann ein unwissender kleiner Anwalt ohne einen Wortkünstler tun?)—und ergänzt durch das geschmacklose Gekläff von Verseschmieden.“
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Übrigens ließ er auch seine Besprechung von Hamelmann, die im Jahr 1599 in der ersten Ausgabe des dritten Jahrzehnts veröffentlicht wurde, in das Vorwort dieser Ausgabe von 1616 aufnehmen. In dieser späteren Ausgabe fügte er in der Überschrift dieser Besprechung in subtiler Weise die Qualifikation „aufrichtiges Urteil“ hinzu.
Die UB Groningen besitzt eine Kopie der 1616er Ausgabe der Rerum Frisicarum historia, die Ubbo selbst (autocheiri) unserer Universität schenkte. Auf das Titelblatt schrieb er das Wort Anathema (Geschenk). Auf dem vorhergehenden Deckblatt brilliert noch eben seine spitze Feder: „Dieses Exemplar wurde durch die Sorgfalt und Hand des Autors von den Druckfehlern gesäubert, von denen die Ausgabe wimmelte, und vom selben Autor dieser Akademiebibliothek übergeben. Ubbo Emmius selbst.“
Im Jahr 1616 gab es die Universität von Groningen bereits seit zwei Jahren. An ihrer Gründung war Ubbo Emmius maßgeblich beteiligt gewesen. Zudem hatte er als ihr erster Rector magnificus gedient. Bei seiner Unzufriedenheit mit Oldenburg spielt die Groninger Akademie also überhaupt keine Rolle. Umso mehr Grund, die gegenwärtigen guten Beziehungen vorbehaltlos zu feiern.
Ad fontes
- Briefwechsel des Ubbo Emmius, ed. H. Brugmans & F. Wachter (Aurich 1911-1923) (2 Bde.)
- J.J. Boer, Ubbo Emmius en Oost-Friesland (Groningen 1936), S. 61–63
- Ubbo Emmius. Tentoonstelling ter gelegenheid van het 40-jarig bestaan van het Groninger Historisch Dispuut ‘Ubbo Emmius’, Hrsg. E.H. Waterbolk et al. (Groningen 1976), S. 21–22
- Ubbo Emmius. Ausstellung im Rathaus am Delft, Emden, 11. Dezember 1977 bis 8. Januar 1978, Hrsg. E.H. Waterbolk et al. (Emden 1977)
- A. Eckhardt & H. Schmidt, Geschichte des Landes Oldenburg (Oldenburg 1987)
- A.J. Rinzema, “Ubbo Emmius als historicus” in Ubbo Emmius. Een Oostfries geleerde in Groningen/Ubbo Emmius. Ein Ostfriesischer Gelehrter in Groningen, Hrsg. W.J. Kuppers (Groningen/Emden 1994), S. 49–62
- E.H. Waterbolk, “Van grafrede naar biografie” in: Ubbo Emmius: Willem Lodewijk, graaf van Nassau (1560-1620), Übersetzt von P. Schoonbeeg (Hilversum 1994), S. 9–27
- G.A. Dekker, Ubbo Emmius. Leben, Umwelt, Nachlass und Gegenwart (Norderstedt 2010)
- K. van Berkel, Universiteit van het Noorden: vier eeuwen academisch leven in Groningen. Deel I: De oude universiteit, 1614-1876 (Hilversum 2014), S. 125–126
Letzte Aktualisierung: | 17 November 2023 12:35 |